Die anfängliche Idee dieses Projektes bestand darin, über den kontinuierlichen Strom von Flüchtlingen und „Asylsuchenden”, die vor ihrer Weiterreise in den Norden Europas am Bahnhof von Bozen und am Brenner Halt machten, unter verschiedenen Gesichtspunkten und Ansätzen zu berichten. Uns ist jedoch klar geworden, dass eine anders geartete, eine umfassendere Sichtweise gefragt war, und die Geschehnisse auch unter dem historischen und geografischen Aspekt beleuchtet werden mussten, angefangen bei der Zeit, als der Brenner zur Staatsgrenze geworden ist; auch galt es, einen Blick auf die anderen Landesgrenzen zu werfen, Ventimiglia und Lampedusa im Besonderen, wobei wir uns abschließend darauf konzentrierten, was das Schengener Abkommen tatsächlich bedeutet haben.
Europa Dreaming ist ein Projekt, bei dem Forscher, Anthropologen, Journalisten, Fotografen und Designer ihren eigenen Standpunkt kundgetan haben, bemüht darum, zu erfassen, was mit dem Traum von Europa vor sich geht – vom Traum der hier Ansässigen bis zu dem der Zuwanderer.
Es ist Frühjahr 2016 und der Brenner läuft Gefahr, wieder zu einer Grenze zu werden, einer „offiziell gekennzeichneten und anerkannten Grenzlinie, die, in mehreren Fällen, mit opportunen Abwehrsystemen ausgestattet ist" (Treccani). Im Vergleich zu früher dienen die Schlagbäume aber nicht mehr zur Abgrenzung des eigenen Territoriums gegen den „Nachbarn”, nicht mehr zur Einschränkung und/oder Kontrolle des Handels zwischen zwei Anrainerstaaten, sondern dem expliziten Ziel, den Zustrom von Menschen anderer Kontinente, anderer Herkunftsländer, die Tausende von Kilometer entfernt sind, zu reduzieren. Die Entscheidung, die Grenzkontrollen zwischen Italien und Österreich wieder einzuführen, ist von vielen Zeitungen als „das Ende des Traumes von Schengen” definiert worden, aber diese Arbeit offenbart eine ganz andere Realität.
Das Schengener Abkommen, das eine Freizügigkeitszone innerhalb der Europäischen Union schaffen sollte, basierte im Wesentlichen und von Anfang an auf einem Polizeiabkommen. Denn „der Fall der Binnengrenzen hatte als Begleiterscheinung die Stärkung der Außengrenzen des Schengen-Raumes zur Folge" (Internazionale). Der Punkt ist, dass die „Stärkung der Außengrenzen” keine Begleiterscheinung war, sondern wesentlicher Inhalt des Übereinkommens selbst. Es ist kein Zufall, dass die Arbeiten für die erste europäische Mauer, den Grenzzaun bei Ceuta (der mit den Geldern der Europäischen Union finanziert wurde), im Herbst 1995 aufgenommen wurden.
(A. Langer, 1995)
Die zuvor zitierten Äußerungen stammen von Alexander Langer während eines Interviews mit Radio Radicale an der Grenze von Ventimiglia. Es war der 27. Juni 1995, sechs Tage später nahm sich der Europaparlamentarier aus Sterzing das Leben. In der Original-Tonaufnahme vernimmt man die Proteste der bosnischen Flüchtlinge, denen der Grenzübertritt nach Frankreich verweigert wurde. Zu jener Zeit war Italien darum bemüht, sich den durch die Schengener Abkommen beschlossenen Richtlinien anzupassen, jenen, welche die Zollkontrollen innerhalb der europäischen Grenzen abschaffen sollten, die aber, wie die Fakten bewiesen, darauf abzielten, die Errichtung der „Festung Europa“ voranzutreiben.
„Zum x-ten Mal ist das Migrationsphänomen auf die Polizeibeamten abgewälzt und deren Pflichtbewusstsein und Menschlichkeit ausgenutzt worden. Das entbindet uns aber nicht davon, einige Erwägungen anzustellen. Der Bürger ist besorgt über das Versteckspiel der Politik, ist sich, gegen den eigenen Willen, bewusst, ein gesellschaftliches Sedativum zu sein, und sich darüber im Klaren, dass es sich weder um ein Problem der Polizei handelt, noch dass es von ihr lösbar ist".
(Mario Deriu, Generalsekretär der Polizeigewerkschaft Siulp in Bozen- Corriere dell'Alto Adige 12/06/2015)
(A. Langer, 1995)
Alexander Langer war nicht prophetisch, er war nur achtsam, was die wichtigsten Belange anging, solche, die die Zukunft Europas aufs Spiel setzten. Denn der so genannte „Emigrationsnotstand” dauert seit zwanzig Jahren an, während man bereits 1995 in Europa begonnen hat, unnütze und nur Schaden anrichtende Mauern hochzuziehen. Mit dem Drahtzaun bei Ceuta, wie allen anderen, die nach und nach errichtet wurden, ist natürlich nichts erreicht worden.
Das Ausmaß und die Realität des Problems aus Wahlkalkül und politischem Konsens heraus nicht in Angriff zu nehmen, hat die Konsequenzen, denen wir heute gegenüberstehen. Die ersten Vorboten waren aber schon vorhanden, die Zeitungstitel und das nachfolgende Video sind ein eindeutiges Beispiel dafür.
(A. Langer, 1995)
Österreich hat beschlossen, die Grenzkontrollen am Brenner wieder einzuführen. Kann diese Entscheidung zu irgendetwas führen? Keiner von uns kann in die Zukunft schauen, aber ein Blick in die Vergangenheit kann durchaus nützlich sein, um das Problem besser zu begreifen. Der Brennerpass ist Ende des Ersten Weltkriegs zu einem Grenzübergang zwischen Italien und Österreich geworden. Seitdem war er nicht nur Schauplatz des Durchgangsverkehrs von Touristen, sondern vor allem von Personen, die auf der Flucht waren vor Krieg, Diktatur oder, banaler, vor Not und Elend. Der Brenner wurde von den Flüchtlingen Ende des 1. Weltkriegs überquert, von den „Optionisten” kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, ab 1943 von Juden auf dem Weg ins Vernichtungslager, durchziehenden Armeen, Kriegsgefangenen und, vierzig Jahre später, ein weiteres Mal von Flüchtlingen.
Zunächst aus dem Balkan, dann aus dem Rest der Welt. Aber zwischen Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Bosnienkrieg war der Brenner auch Durchgangsort für Hunderttausende von italienischen Arbeitern, die ihr Glück in Deutschland suchten und es nicht selten auch fanden. Die nachstehenden Fakten und Ziffern verdeutlichen das Gesagte, vor allem aber zeigen sie, verglichen mit dem, was heute vor sich geht, eine ganz andere Perspektive auf.
Der Erste Weltkrieg begann am 28. Juli 1914 mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an das Königreich Serbien infolge der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Este am 28. Juni 1914 in Sarajevo, und endete vier Jahre später, am 11. November 1918. Im Anschluss daran wurde der Brenner zur Staatsgrenze zwischen Italien und Österreich. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde er von Hunderttausenden von Italienern, vorwiegend aus dem Nordosten, überquert, die auf der Suche nach Arbeit im Deutschen Kaiserreich waren.
Bei der Volkszählung von 1907 wurden 115.00 italienische Erwerbstätige im deutschen Gebiet erfasst, 1913 waren es bereits 170.000. In den Monaten vor Ende des Ersten Weltkriegs wurde der Brenner von Truppen, Kriegsflüchtlingen, durchziehendem Militär* überquert und in den darauffolgenden Jahren änderte sich leider sehr wenig daran.
Nach Unterzeichnung des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye, der die neue Staatsgrenze am Brenner festlegt, werden Teile Tirols einschließlich Cortina d'Ampezzo und die heutigen Autonomen Provinzen Bozen und Trient Italien angegliedert.
In der Dependance des Hotels Victoria, gegenüber vom Bahnhof von Bozen, wird im Beisein von Königin Margherita das „Bonomelli-Hospiz” eingeweiht, das den zugewanderten Arbeitern Beistand leisten soll. Es wird eine Büste zu Ehren von Monsignore Bonomelli aufgestellt, auf der folgende Inschrift zu lesen ist: „Das von ihm gegründete Werk wünschte die Errichtung dieses gastlichen Hauses, damit die zugewanderten Arbeiter zweier
friedfertiger prosperierender Stämme innerhalb der unantastbaren natürlichen Grenzen Italiens in seinem erlauchten Namen Obdach, Zuspruch und Rat finden.“ In nur einem Jahr, 1927, hat „das Bonomelli-Hospiz fünftausend Essensrationen ausgegeben und siebenhundertdreiundsechzig Personen beherbergt, und das völlig kostenlos.”
Bei der Italienischen Botschaft in Berlin trifft eine Anfrage nach einem kleinen Kontingent an Landarbeitern, insgesamt 2.500 Kräften, ein. Die Behörden des Reiches würden es bevorzugen, wenn diese aus Südtirol kämen. Am 3. Dezember 1937 wird festgelegt, dass «im Jahr 1938 die Zahl der Arbeiter 10.000 und bis zu 30.000 erreichen kann.
1938 machen sich 31.071 Landarbeiter auf den Weg, die 1939 auf 36.000 anwachsen; ab 1940 pendelt sich die jährliche Gesamtzahl auf 50.000 ein. 1943 werden keine Zuwanderungen mehr registriert. Neben den Landarbeitern fordert das Dritte Reich beim italienischen Verbündeten auch Bau- und Bergarbeiter an. Von den ersten, ab Herbst 1938 und über das gesamte Jahr 1939 hinweg, passieren 9.500.
Die Optionsabkommen werden unterzeichnet. Der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung Südtirols wird die Wahlmöglichkeit auferlegt, ob sie deutsche Bürger werden und in das Gebiet des Dritten Reichs umsiedeln oder aber italienische Bürger bleiben wollen und damit darauf verzichten, als sprachliche Minderheit anerkannt zu werden. Die Optionsfrist läuft am 31. Dezember 1939 ab. In den ersten Monaten des Jahres 1940 starten die ersten Sonderzüge, um die Optanten auf die andere Seite des Brenners zu befördern. Die Gesamtzahl der Umsiedler beträgt in etwa 75.000 Personen.
Der Angriff der deutschen Truppen auf Polen war der Auslöser des Zweiten Weltkriegs.
Kurz vor Passieren des Brenners, im Zug nach Auschwitz, lässt der Schriftsteller Primo Levi eine an seine Familie gerichtete Karte fallen.
Kapitulation der deutschen Streitkräfte. Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. In den darauffolgenden Monaten kehren Kriegsflüchtlinge und -gefangene, zahlreiche Umsiedler und Juden, die die Konzentrationslager überlebt haben, über den Brenner zurück. Die überlebenden Soldaten werden nach Überschreiten der Grenze im „Zentrum für die Heimkehrerbetreuung” in Bozen versorgt.
Auch Primo Levi kehrt nach Italien zurück: „Es war schon Nacht, als wir über den Brenner fuhren, den wir zuletzt vor zwanzig Monaten auf dem Weg ins Exil überquert hatten: die nicht so hart geprüften Kameraden brachen in fröhliche Begeisterung aus, Leonardo und ich verfielen in Schweigen.
Von den sechshundertfünfzig, die mit uns gewesen waren, kehrten drei zurück" - aus „Die Atempause”)
1950 überquerten 650.000 Personen auf der Brennerstraße die Grenze, acht Jahre später sind es fast zwei Millionen Menschen. Auf dem Schienenweg steigt die Zahl im gleichen Zeitraum von 450.000 auf 955.000 an.
Ziffern, die belegen, in welchem Maße der Fremdenverkehr über den Brenner denjenigen aller anderen italienischen Grenzpässe zu übertreffen vermochte.
Italien unterzeichnet mit Deutschland ein Anwerbeabkommen. Diesem Abkommen schloss sich 1957, mit der Entstehung der EWG, die Anerkennung des Prinzips der Freizügigkeit der Arbeiter innerhalb der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft an. Auf diese Weise werden immer mehr Italiener durch die von der boomenden deutschen Industrie gebotenen Möglichkeiten angezogen.
Zwischen 1954 und 1962 sind es 2.104.900 Gastarbeiter, die sich nach Deutschland begeben, davon 737.700 Italiener. Damit ist die italienische die größte Gemeinschaft, gefolgt von Spaniern, Griechen und Türken (Quelle: Migration und Politik: Westdeutschland - Europa - Übersee 1945 - 1961)
Die Wochenzeitschrift „Der Spiegel” feiert den millionsten Gastarbeiter
„Von 1990 bis 1997 war die Brennergrenze in einer sehr schwierigen Situation. Während des Krieges in Kroatien, Bosnien und Kosovo löste das, was ich tat, eine Art Wirbel in den Massenmedien aus. Ich wurde zum humanitären Bezugspunkt für die Flüchtlinge, da mir meine Beziehungen zur Grenzpolizei eine gewisse Bewegungsfreiheit ließen. Ich erinnere mich an eine Fronleichnamsprozession, die jenseits und diesseits der Grenzen stattfand; sie wurde von den Medien verfolgt, denn ich hatte Personen aus ganz Europa am Brenner zusammengeführt, elf Regionen Europas begegneten sich, um ein mehrsprachiges ökumenisches Gebet einzuläuten.
Ich vermag nicht zu sagen, wie vielen Personen ich geholfen habe. Gewiss habe ich auch Schmähungen und Verleumdungen hinnehmen müssen. Irgendwann ist mir bewusst geworden, dass die von mir geleistete Flüchtlingshilfe von den Behörden missbilligt wurde und das hat mich davon überzeugt, die Grenze zu verlassen.”
(Aussage von Don Hugo Senoner, zu jener Zeit Pfarrer am Brenner)
Von den über 600.000 Italienern, die 1993 in Deutschland ansässig waren, leben 166.000 seit über 30 Jahren in Deutschland, 87.000 davon sind zwischen 15 und 30 Jahre alt.
Die Unterzeichnung des Schengener Abkommens zur Schaffung einer Freizügigkeitszone innerhalb der Europäischen Union ist faktisch ein Polizeiabkommen.
Die Schlagbäume an der Brennergrenze werden abgeschafft. Beim Staatsakt ist Innenminister Giorgio Napolitano zugegen, der gegen „jedwede Rückkehr zu niederträchtigen und destruktiven Nationalismen" warnte, aber „einen neuen und starken Einsatz zu Gunsten der Sicherheit, im Einvernehmen mit Österreich” ankündigte, „um nicht nur kriminelle Vereinigungen, sondern auch die illegale Einwanderung zu bekämpfen”.
Es ist Frühjahr 2016 und der Brenner läuft Gefahr, wieder zu einer Grenze zu werden, einer „offiziell gekennzeichneten und anerkannten Grenzlinie, die, in mehreren Fällen, mit opportunen Abwehrsystemen ausgestattet ist" (Treccani). Im Vergleich zu früher dienen die Schlagbäume aber nicht mehr zur Abgrenzung des eigenen Territoriums gegen den „Nachbarn”, nicht mehr zur Einschränkung und/oder Kontrolle des Handels zwischen zwei Anrainerstaaten, sondern dem expliziten Ziel, den Zustrom von Menschen anderer Kontinente, anderer Herkunftsländer, die Tausende von Kilometer entfernt sind, zu reduzieren. Die Entscheidung, die Grenzkontrollen zwischen Italien und Österreich wieder einzuführen, ist von vielen Zeitungen als „das Ende des Traumes von Schengen” definiert worden, aber diese Arbeit offenbart eine ganz andere Realität.
Das Ziel der Schaffung des „Schengen-Raums” war es, einen Raum der Freizügigkeit für die europäischen Bürger innerhalb der Union zu schaffen. Das hat zur allmählichen Abschaffung der systematischen Kontrollen entlang der Binnengrenzen geführt, aber auch zur Verstärkung der Kontrollen an den Außengrenzen, zur Entwicklung einer Gemeinschaftspolitik mit Blick auf Visa und Asylanträgen, zur Schaffung der SIS-Datenbank und zum Kooperationsausbau im juristischen und polizeilichen Bereich. Artikel 20 des „Schengen-Kodex” legt die Abschaffung der Binnenkontrollen fest und besagt, dass: „Die Binnengrenzen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden dürfen. Während systematische Personenkontrollen an den Außengrenzen abgeschafft worden sind, dürfen die Mitgliedstaaten aus Gründen der inneren Sicherheit Kontrollen auf der Grundlage von Stichproben auf dem eigenen Territorium und im Grenzgebiet durchführen”. Ziel der „Dublin-Verordnung” hingegen ist es, das Land zu ermitteln, das für die Untersuchung des Ersuchungsantrags um internationalen Schutz innerhalb der EU zuständig ist, und folgt im Wesentlichen dem Grundkriterium der Ersteinreise, was demnach das erste europäische Land wäre, in das der Antragsteller gelangt ist.
Die offizielle Begründung lautet, mit diesem Übereinkommen zu garantieren, dass mindestens einer der Mitgliedstaaten das Asylverfahren durchführt, gleichzeitig soll verhindert werden, dass der Asylbewerber mehr als ein Verfahren im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten betreiben kann. Wer auf eigene Faust und illegal die Außengrenzen des Geltungsbereichs der Verordnung überschreitet, kann demnach in das Land der Ersteinreise zurückgeführt werden (durch Ermittlung der in der EURODAC registrierten Fingerabdrücke). Aber nach 15 Jahren der Versuche und 25 Jahren „Dubliner Übereinkommen” sind wir weit entfernt von einem gemeinschaftlichen Asylsystem für die gesamte Europäische Union, und sei es nur einer „harmonisierten“ Realität mit – einem Minimum an – für alle gleichen Standards. Eine Vielzahl von Organisationen verlangt heute die Überwindung dieses Systems, um die Interessen der Staaten zu wahren, aber auch die Belange derer, die internationalen Schutz suchen.
(A. Langer, 1995)
Im Jahre 2015 waren es zwischen 30 und 70 Personen täglich, vorwiegend im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, denen es gelang, den Brenner zu überqueren und auf die eine oder andere Weise die – zur Bekämpfung des Phänomens eingerichteten – trilateralen Kontrollen (durch die italienische, die österreichische und die deutsche Polizei) zu passieren.
Wir sprechen von 2.500 bis 3.000 Übergängen pro Monat (Quelle: Abteilung Soziales der Autonomen Provinz Südtirol), etwa 26.000 Personen im gesamten Jahr 2015, rund 30 % der im letzten Jahr in Italien an Land gegangenen 153.842 Flüchtlinge (Quelle: Unhcr).
Die Zahlen und die Geografie beweisen, in welchem Maße das Schengener Abkommen das Ergebnis einer extrem partialen Auffassung dessen ist, was Europa werden sollte. Denn das Übereinkommen zur Kontrolle der Außengrenzen und die nachfolgende Dublin-Verordnung scheint ein wesentlicher geografischer Umstand nicht zu interessieren: die natürliche Grenze Europas besteht vorwiegend aus Meer, insbesondere dem Mittelmeer. Wahrscheinlich haben die nordeuropäischen Staaten geglaubt, das Problem auf die Mittelmeerländer abwälzen zu können, allerdings beweisen die Zahlen, in welchem Maße sie sich geirrt haben. Man braucht sich nur einige Daten bezüglich der Anlandungen in Italien, Griechenland und Spanien genauer anzuschauen und diese mit den Asylanträgen und den Reaktionszeiten der verschiedenen Länder der Union zu vergleichen.
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2015: die Anlandungen der Migranten
6 Monate
Schweden
Frankreich
Deutschland
Ungarn
Normalerweise soll ein Asylverfahren in der Europäische Union maximal sechs Monate dauern.
Bis zu 7 Monate
Bis zu 7 Monate
Bis zu 11 Monate
Bis zu 12 Monate
Belgien
Greece
Italien
UK
Zypern
Bis zu 12 Monate
Bis zu 18 Monate
Bis zu 24 Monate
Bis zu 36 Monate
Bis zu 36 Monate
6 Monate
Schweden
bis zu 7 Monate
Frankreich
bis zu 7 Monate
Deutschland
bis zu 11 Monate
Ungarn
bis zu 12 Monate
Belgien
bis zu 12 Monate
Griechenland
bis zu 18 Monate
Italien
bis zu 24 Monate
UK
bis zu 36 Monate
Zypern
bis zu 36 Monate
Obwohl die EU-Richtlinie sechs Monate als notwendige Zeit für die Bearbeitung eines Asylantrags durch das beauftragte Land benennt, sieht die Realität dennoch ganz anders aus – mit Extremfällen wie Zypern, wo die Anträge eine Bearbeitungszeit von bis zu 30 Monaten über die gesetzlich festgelegte Zeit hinaus in Anspruch nehmen können, was ein klarer Hinweis auf eine gescheiterte „Harmonisierung” innerhalb der Mitgliedstaaten ist.
Dieser Rahmen ist dem Aufnahmeprozess des Asylbewerbers in das neue Gefüge alles andere als dienlich, ganz zu schweigen von der Abschiebung im Fall der Ablehnung des Antrags, und ohne die ungleichmäßige Behandlung durch die einzelnen Länder zu berücksichtigen.
Darüber hinaus fehlt eine Richtlinie oder Klausel hinsichtlich der Mindeststandards der Maßnahmen und Leistungen mit Blick auf die gesellschaftliche, sprachliche und berufliche Integration und Einbeziehung, die mit den Aufnahmemaßnahmen einhergehen sollten. Ohne gemeinschaftliche oder zumindest so weit wie möglich gleichartige Bedingungen und Fristen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten, wird es wirklich schwer sein, den täglich die europäischen Nicht-Grenzen überschreitenden Migranten Einhalt zu gebieten, um mit den eigenen Familienangehörigen zusammenzufinden oder einfach um eine Behandlung in Anspruch zu nehmen, die, während der notwendigen Prüfzeit des eigenen Antrags, als vorteilhafter imaginiert wurde.
Um das, was Tag für Tag um eine mobile Grenze vor sich geht, besser zu verstehen, haben wir einige der Flüchtlinge interviewt, die Bozen und den Brenner passiert haben. Der Großteil von ihnen stammt aus Eritrea und möchte nach Nordeuropa. Sie haben ihre Heimat aufgrund der harten Militärdiktatur verlassen und waren bemüht, ihre Verwandten, vor allem in Deutschland und in Schweden, zu erreichen. Auf der langen Reise ist die Grenze zum Sudan zu überqueren, um nach Khartum zu gelangen, wo die Flüchtlinge für gewöhnliche einige Monate verbleiben, um das für die Weiterreise benötigte Geld zu verdienen.
Sich auf libysch-eritreische Schlepper verlassend, durchqueren sie anschließend die Sahara und gelangen nach Libyen, wo sie sich in Tripolis nach Lampedusa einschiffen und die Reise durch Sizilien über Rom und den Brenner fortsetzen, der nur ein Tor ist, das sie von Nordeuropa trennt. Die von uns interviewten Personen haben dieses Tor sämtlich überwunden.
Er hat sein Land, den Senegal, verlassen und möchte den Italienern und den Europäern dafür danken, dass er noch am Leben ist und es nicht auf dem Meeresgrund ausgehaucht hat.
Von Äthiopien über Europa in die Vereinigten Staaten, wie? Das weiß er nicht genau, aber er weiß, dass nichts unmöglich ist, wie durch die Wüste und über das Mittelmeer zu kommen und am Leben zu bleiben.
500 Menschen auf einem Lastkahn, eine Frau bringt ein Kind zur Welt, die Rettungskette und das Schicksal am seidenen Faden des Asyls hängend: wenn Deutschland ihm Asyl gewährt, gut, wenn nicht, wird er seine Wallfahrt fortsetzen.
In Eritrea tritt man mit 17 Jahren den Militärdienst an und das bleibt ein Leben lang so, ohne Wahlmöglichkeit, für € 10,00 monatlich.
So die an die Migranten auf der Durchreise am Brenner im Laufe der verschiedenen Phasen der Studie gerichtete Frage. Der lange Weg und die erlittenen Überfälle haben dafür gesorgt, dass von dem anfänglichen Gepäck nur wenig übrig geblieben ist: Bibeln, Tätowierungen, das eigene Smartphone und, selten, Ketten und Ringe. Viele tragen ein Kreuz am Hals, oftmals als Schutzsymbol vor den Risiken und Gefahren der Reise. Mit dem Smartphone hingegen schreiben die Flüchtlinge nach Hause und fragen bei bereits am Zielort angelangten Freunden und Verwandten nach Informationen zur Strecke. Das Mobiltelefon enthält auch das Fotoalbum der Familie, was wahrscheinlich das Vertraulichste und Kostbarste ist, das die Flüchtlinge bei sich tragen und das sie uns nur in wenigen Fällen gezeigt haben.
Die Tätowierungen, die häufig von Freunden oder, in einigen Fällen, von den eigenen Eltern angefertigt wurden, sind oftmals religiösen Hintergrunds und haben gleich zweifache Bedeutung: zum einen dienen sie als heilige „Beschützer“ und zum anderen als „Verbindung“ zu den in der Ferne weilenden Familienangehörigen und Freunden. Gleich so, als ob angesichts der Widrigkeiten eine Art Notmodus in Form von Gegenständen und Gefühlen aktiviert würde, welche die Intimsphäre, die Familie und den Glauben betreffen und die Trost zu spenden und Kraft und Durchhaltevermögen zu verleihen in der Lage sind.
(Um sie zu schützen, haben wir die Gesichter von Verwandten oder Freunden der Flüchtlinge, die sich für ein Foto zur Verfügung gestellt haben, unkenntlich gemacht)
(A. Langer, 1995)
Alles bisher Geschriebene führt unweigerlich dazu, mit dem Finger auf ein Problem zu zeigen, das nach wie vor ungelöst ist. Das Europa von heute, was ist das? Was möchte es werden? Wie wird es gesehen oder wie stellt man es sich vor? Die Antwort darauf haben wir nicht gefunden, auch weil, wie es scheint, niemand eine parat hat. Jahrelang – die Frage bezüglich der Einheitswährung hat ein Übriges dazu geleistet – hat sich Europa für einen exklusiven Club gehalten, der nur denjenigen Zutritt gewährte, die alle nötigen Voraussetzungen erfüllten. Und wir sprechen von ganzen Staaten, nicht von Menschen, denn unterdessen haben Letztere, wie es schon immer der Fall war, trotz Mauern, trotz Gefahren, weiterhin die Grenzen überwunden.
Es liegt auf der Hand, dass sich im Jahr 2016, trotz Schengen und trotz Euro, nur wenig geändert hat. Noch immer werden wirtschaftliche Parameter diskutiert, werden die Außengrenzen verstärkt und, zur Stunde, auch die Innengrenzen neu errichtet. Zwanzig Jahre sind nutzlos ins Land gegangen, denn man hat den Blick stur von dem Problem abgewandt und mehr an den öffentlichen Konsens als an die Lösung der Probleme gedacht. Und erst jetzt wird festgestellt, dass all das einen Groll auf Europa und seine Abkommen bewirkt hat, das wirklich Szenarien eröffnet, die wir für nicht mehr möglich gehalten hätten, die vor allem aber im Begriff sind, den Traum von Europa zunichte zu machen.